«Manche Kinder regulieren Gefühle über das Saugen an der Brust»
Tilja Tanner erzählt in diesem Interview unter anderem davon, was Eltern tun können, wenn ihr Kind lange nächtliche Wachphasen hat.

Im Teil 1 ging es um den Neugeborenenschlaf und im dritten Teil des Interviews erzählt sie uns, wie man das Kind am besten ins eigene Schlafzimmer «zügelt».
Nau.ch: Babys und Kleinkinder wachen teilweise extrem häufig auf in der Nacht, obwohl sie nicht mehr das Bedürfnis nach Nahrung haben. Warum ist das so?
Tilja Tanner: Also erstmal ist es ganz natürlich, dass ein Kind (und übrigens auch wir Erwachsenen) im Schlafphasenwechsel nachts ca. alle 1.5 bis 2 Stunden aufwacht. Wir Erwachsenen haben aber irgendwann gelernt, uns umzudrehen und weiterzuschlafen.
Ungefähr ab dem vierten Lebensmonat schlafen Kinder, wie auch wir Erwachsenen, zyklisch. Das heisst, in jedem Zyklus werden verschiedene Schlafphasen durchlaufen. Zwischen diesen Zyklen erfolgt jeweils ein kurzes Aufwachen. Im Idealfall schläft das Kind selbständig weiter. Hier spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, die darüber entscheiden, ob das Kind schon selbständig weiterschlafen kann.

Dazu gehört beispielsweise die Frage, ob das Kind altersentsprechend noch Nahrung braucht. Ebenfalls spielt die Reife eine Rolle oder eben auch, was das Kind bisher übers Ein und Weiterschlafen gelernt hat. Ein altersentsprechender Rhythmus beim Schlafen und in der täglichen Nahrungsaufnahme unterstützt sicher auch dabei, dass ein Kind länger am Stück schlafen kann.
Nau.ch: Was kann man gegen nächtliches Aufwachen tun?
Tilja Tanner: Dafür gibt’s leider kein Patentrezept, die Lösung sieht für jede Familie anders aus. Aber der erste Schritt ist sicher immer eine Analyse der Situation durch ein Schlaf- und Essprotokoll und ein Analysegespräch, wo wir gezielt die Situation, die Ziele und Wünsche der jeweiligen Familie besprechen.
Dann wird im zweiten Schritt ein Rhythmus mit altersentsprechenden Wachphasen etabliert. Dadurch schaffen wir eine gute Basis. Hier schauen wir auch die Nächte an und besprechen, wie wir in kleinen Schrittchen erreichen können, dass das Kind selbständiger weiterschlafen kann. Hier ist mir in meiner Arbeit ganz wichtig, dass das Kind dabei immer von seinen Eltern begleitet wird.
Nau.ch: Gewisse Kinder brauchen die Brust / Flasche, um in der Nacht wieder einzuschlafen. Wie kann man dies am besten abgewöhnen?
Tilja Tanner: Phuuu, das ist eine sehr schwierige Frage. Wenn das so einfach wäre und sich mit ein paar Tipps lösen lassen würde, dann hätte ich keine Arbeit. Grundsätzlich vertrete ich die Haltung, dass jede Situation vollkommen in Ordnung ist, solange alle Parteien damit fein sind. Wenn das nicht mehr der Fall ist, finde ich es wichtig, zu schauen, wie die Situation verändert werden kann.
Im Falle von Nahrung spielen oft drei Aspekte eine Rolle: Zum einen kann das der Hunger sein, weil das Kind altersentsprechend noch Nahrung braucht, es sich mit der Zeit daran gewöhnt hat, nachts zu essen, oder sich übers Saugen reguliert.

Wichtig ist immer, zu verstehen, dass Ein- und auch Weiterschlafen fürs Kind eine Regulationssituation ist. Es reguliert sich von einem aktiven und wachen Zustand in einen ruhigen und schlafenden Zustand. Über seine bisherigen Erfahrungen lernt ein Kind, wie es diese Regulationssituation am besten bewältigen kann. Im Fall der Flasche oder Brust ist das oft übers Saugen.
Zuerst schaue ich hier mit den Eltern, ob es rhythmusbedingte Gründe fürs häufige Aufwachen gibt und wie sich die Nahrung auf 24 Stunden verteilt. Dann würde ich immer altersentsprechende Wachphasen und ein regelmässiges Angebot für die Nahrungsaufnahme am Tag einführen.
Und in einem weiteren Schritt üben wir mit dem Kind, sich auch ohne Brust oder Flasche zu regulieren. Das schliesst natürlich nicht aus, dass ein Kind nachts noch Nahrung bekommt. Je nach Alter und auch Menge der Nahrung ist das Vorgehen unterschiedlich.
Nau.ch: Es gibt Kinder, die immer wieder stundenlang wach sind in der Nacht.
Tilja Tanner: Von nächtlichen Wachphasen sprechen wir, wenn das Kind nachts länger als 30 Minuten am Stück wach ist. Dafür gibt’s verschiedene Gründe: Zum einen kann das entwicklungsbedingt auftreten, wenn ein Kind gerade viel Neues lernt. Dann kann das eine Gewohnheit sein – wenn das Kind irgendwann versteht, dass die Eltern nachts viel Zeit haben und dann spielen möchte oder einfach die Aufmerksamkeit geniesst oder es kann an einem unpassenden Rhythmus liegen.
Der häufigste Grund dafür ist meiner Erfahrung nach ein unpassender Tagesrhythmus. Auch hier gibt’s verschiedene Szenarien: Der Schlafbedarf wird überschätzt (zu viel Tagschlaf, ein zu kurzer Tag und eine zu lange Nacht), aber auch Übermüdung spielt oft eine Rolle (zu lange Wachphasen, zu wenig Tagschlaf, ein zu langer Tag).
Wenn nächtliche Wachphasen ein Thema sind, würde ich immer zuerst den Rhythmus anschauen. Oft erledigt sich das Thema dann relativ schnell. Leider ist es für einen Laien gar nicht so einfach, den Grund für die Wachphasen herauszufinden, weil der eben so individuell sein kann.
Dann ist es ganz wichtig, dem Kind nachts zu signalisieren, dass jetzt Zeit zum Schlafen ist. Dies, indem ihr leise redet und möglichst kein Licht macht und auch nicht aufsteht, um mit eurem Kind zu spielen. Seid euch aber immer bewusst, dass euer Kind euch mit dem Wachsein nicht ärgern will – es kann meistens zu diesem Zeitpunkt einfach gerade nicht weiterschlafen!