«Ich verwende den Begriff ‘Schlafregression’ nicht»

Sophie Keilwerth
Sophie Keilwerth

Tilja Tanner erzählt im dritten Teil der Interview-Reihe, wie man mit Entwicklungssprüngen und der Autonomiephase am besten umgeht.

Babyschlaf
Tilja Tanner berät Eltern rund um den Baby- und Kinderschlaf. - zvg / Depositphotos

Nau.ch: Es gibt immer wieder die gefürchteten Schlafregressionen. Was bedeuten diese genau und wie geht man als Eltern am besten damit um?

Tilja Tanner: Von einer «Schlafregression» sprechen manche Fachleute, wenn ein Kind sich weiterentwickelt und im Kontext Schlaf aufgrund von dieser Weiterentwicklung ein Rückschritt/ rückläufiges Verhalten zeigt. Dieser Begriff ist allerdings nicht wissenschaftlich gesichert und eher ein Modebegriff, der vor allem in den sozialen Medien gebraucht wird.

Stell dir vor, du setzt dich in ein Flugzeug und fliegst in ein dir unbekanntes Land. Du verstehst weder die Sprache, musst dich zuerst an die Mentalität, ans Essen und ans Klima gewöhnen. Wie geht’s dir dabei? Ich rate jetzt mal, du wirst dich wahrscheinlich erstmals überwältigt, unwohl, unsicher und überfordert fühlen.

Kinder entwickeln sich in Phasen und mit jeder Entwicklung ergeben sich fürs Kind ganz viele neue Möglichkeiten. Es nimmt seine Umwelt aus einer neuen Perspektive wahr. Ihm geht’s dann genau gleich, wie wenn du in ein dir unbekanntes Land reist: Es fühlt sich vielleicht überwältigt, überfordert, unwohl und ist unsicher.

Mit dem Unterschied, dass dein Kind auf dich als Bezugspersonen angewiesen ist. Das kann dann dazu führen, dass ihm Trennungen schwerer fallen (auch einschlafen ist eine Trennung), dass es sich nachts vermehrt versichern muss, dass du noch da bist oder dass es allgemein über den Tag hinweg unzufrieden oder überfordert ist.

Wenn wir das Ganze aus diesem Blickwinkel anschauen, wird uns relativ schnell klar, dass Kinder in diesen Phasen (und davon gibt es einige in den ersten zwei Lebensjahren) vor allem unsere Begleitung und Unterstützung brauchen. Das hat aber nichts mit einem Rückschritt oder rückläufiger Entwicklung zu tun, wie uns das Wort Regression glauben lässt, sondern mit vermehrter Rückversicherung aufgrund eines ganz natürlichen Fortschritts.

Babyschlaf
Bei einem sogenannten Entwicklungssprung brauchen Kinder oft viel Nähe. - Depositphotos

Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht von Regressionen spreche. Diese Weiterentwicklung bringt ganz viele neue Möglichkeiten mit sich. Ich rate Eltern, sich auf die Fortschritte zu fokussieren, als auf die Begleiterscheinungen, die eine solche Weiterentwicklung mit sich bringt.

Es ist ganz normal das Einschlafen während solchen Phasen schwieriger sein kann und das Kinder häufiger aufwachen. Eltern können diese Phasen nicht beeinflussen, sie können aber beeinflussen wie sie damit umgehen. Was häufig passiert, wenn Kinder mehr Unterstützung brauchen oder das Thema Schlaf schwieriger wird ist, dass viele Eltern aus Überforderung alles über den Haufen werfen und in Aktionismus verfallen. Es wird dann oft aus Überforderung, planlos vieles durcheinander ausprobiert, was das Kind eher zusätzlich verunsichert.

Ich empfehle Eltern, dass wenn sie denken, ihr Kind ist in einem Entwicklungssprung, zu überprüfen ob die Wachphasen noch passen oder ob die vielleicht etwas länger sein müssen. Es lohnt sich mal zu beobachten. was das Kind in der Situation wirklich braucht. Oft beobachte ich nämlich, dass es viel weniger ist als die Eltern denken.

Nau.ch: Wie zügelt man das Baby oder Kleinkind vom Elternschlafzimmer in sein eigenes Zimmer?

Tilja Tanner: Auch hier gilt: Es gibt keinen perfekten Zeitpunkt für einen Wechsel ins eigene Zimmer. Der ist dann, wenn er für euch als Familie passt! Wichtig finde ich hier, dass Eltern sich bewusst sind, dass Kinder ungefähr mit neun Monaten die Objektpermanenz entwickelt haben. Sie wissen dann das ihre Eltern auch noch da sind, wenn sie diese nicht über ihre Sinne wahrnehmen.

Oft wird Familien, die eine belastende Schlafsituation haben, empfohlen, das Kind ins eigene Zimmer auszuquartieren. Das kann helfen, wenn sich Eltern und Kind gegenseitig beim Schlafen stören und aufwecken -bringt aber meist nicht automatisch mehr Selbstständigkeit mit sich.

Ich würde grundsätzlich immer erstmal schauen, wie viel Unterstützung das Kind in der aktuellen Schlafsituation im Elternschlafzimmer braucht. Wenn es noch sehr viel Unterstützung braucht, lohnt es sich hier erstmal in der gewohnten Situation an mehr Selbständigkeit zu arbeiten.

Sonst kann es für die Eltern sehr anstrengend werden, nachts mehrmals aufzustehen, um das Kind im eigenen Zimmer beim Weiterschlafen zu begleiten. Oft endet das in einer sehr unklaren Schlafsituation für das Kind, weil es mal hier und mal da schläft. Eine stabile zuverlässige Schlafsituation ist aber essenziell, damit das Kind sich orientieren kann und sich sicher und geborgen fühlt.

Nau.ch: Was ist besonders am Schlaf von zweijährigen Kindern? Worauf sollte man als Eltern hier besonders achten?

Tilja Tanner: Mit der Autonomiephase (diese startet ca. mit 16 Monaten und erreicht ihren Höhepunkt mit ca. 2.5 Jahren), tauchen oft auch neue Themen in der Schlafsituation auf. Kinder nehmen sich immer mehr als eigenständige Persönlichkeiten mit eigenen Ideen und Wünschen war. Sie lernen auch, dass sie über ihren Willen etwas erreichen können und reagieren dementsprechend frustriert, wenn sie merken, dass das nicht klappt.

Babyschlaf
In der Autonomiephase kommt es oft vor, dass Kinder sich gegen den Schlaf wehren. - Depositphotos

Auf die Schlafsituation bezogen bedeutet das, dass Kinder hier viel klarer in ihren Vorstellungen und Wünschen werden. Viele Familien, die mit Kindern in diesem Alter bei mir in der Beratung sind, schildern mir sehr lange, aufwändige und nervenaufreibende Einschlaf- und auch Weiterschlafsituationen und haben das Gefühl, ihr Kind will nicht schlafen.

Oft ist in diesem Alter auch Thema, dass Kinder plötzlich keinen Mittagsschlaf mehr machen möchten. Hier wird in der Beratung, wie bei jedem Schlafproblem, erstmals der Rhythmus angeschaut. Viele Kinder um zwei Jahre alt brauchen deutlich längere Wachphasen als zuvor. Denn wer nicht müde genug ist, der kann nicht einschlafen. Dann schauen wir auch den Alltag an. Dies beinhaltet zu überprüfen, ob das Kind die Möglichkeit hat seine Autonomie in einem altersentsprechenden Rahmen auszuleben.

Wir schauen aber auch, ob und wieviel Führung es durch die Eltern im Alltag erhält und wie klar die Eltern mit ihrem Kind kommunizieren. Dann ist ganz wichtig, dass Eltern verstehen, dass ihr müdes Kind in der Schlafsituation mit zu viel Autonomie schlichtweg überfordert ist.

Denn wer Verantwortung für die Situation trägt, der kann sich nur schwer entspannen. Es ist wichtig, dass Eltern in der Schlafsituation die Verantwortung übernehmen. Ich erarbeite mit den Eltern gemeinsam klare Abläufe und wir schauen auch, wie sie ihr Kind bei Frust begleiten können.

Mehr zum Thema:

Weiterlesen